„Pöbel in Glanz und Würden, in Pallästen und im Ueberfluß!“


Ihr sagt: eine Demokratie paßt nur für ganz kleine Staaten, so sag‘ ich auch: es ist eine Stadt-regierung, keine Staatsform für ein großes Volk. Selbst das römische Volk hatte nur eine Stadtregierung, und dennoch bewirkte sie Wunder. Sagt ihr aber, die heutigen Völker seien für republikanische Formen nicht tüchtig, so ist man versucht zu denken, ihr urtheilt nach euch selbst. Meinet ihr aber, sie seien dafür noch nicht reif; so brecht ihr euch den Stab und der Monarchie, die in tausend Jahren nicht fähig war die Völker weiter zu bringen. Lauter nichtige Vorwände! Um die Erziehung der Völker zu bewirken, raubt ihr ihnen die Bildungsmittel, Schule und Presse! Deutet man euch auf Nordamerika, wo mit Menschen von gleicher Art und Weise wie wir die Repräsentativ-Republik in vollem Glanze blüht, wo fünfzig Jahre sturmlos hingegangen, und von wo, nach weiteren fünfzig Jahren das versunkene Europa, wenn dessen Wiedergeburt mißlingt, das Gesetz, im schlimmsten Falle Freiheit und Civilisation zurück empfangen wird; so leugnet ihr entweder schamlos die bewunderungswerthen Resultate, die sie liefert, oder ihr helft euch mit der Wendung, Amerika sei nicht Europa. Derselben Ausflucht bedienten sich die französischen Hofschranzen, als die Rede war von Ueberpflanzung der konstitutionellen Monarchie Englands nach Frankreich. Die Folgezeit hat gelehrt, daß diese Uebersiedlung sehr leicht, in der That aber der Mühe nicht werth war. Die Zukunft wird zeigen, daß Europa so geeignet wie Amerika für ächt republikanische Gemeinwesen, und die Früchte werden noch herrlicher sein als dort, wo der Mensch noch mit den ersten Bedürfnissen ringt, wo es fast an allen Elementen für geistige Schaffungen gebricht. Selbst in Südamerika gedeiht diese herrliche Staatsform, trotz dem monarchischen Unflath, den Spanien und Portugal dahin ergossen.

Was man jedoch den Republikanern bis zum Eckel vorgeworfen, und den ängstlichen Gemüthern der Unwissenden als Schreckbild vorzuhalten sich bemüht, sind die Greuel der französischen Revolution von 1793. Dieser Einwurf erfordert eine ernsthafte Widerlegung schon darum, weil er so häufig vorkommt; aber es würde mich zu weit führen. Nur wenige Worte hier. Das tragische Geschick der Gironde hindert mich nicht Gerondist zu sein, in bestem Sinne des Wortes. Wer verrichtete die Greuel, die ihr mit Recht tadelt? Ihr Sagt, das Pöbel der großen Städte. Ich frage zuerst, wer hat diesen Pöbel herangebildet? Die Monarchie. Wer reitzte die Bergparthei? Der Hof, die Pfaffen, der Adel. Wer steigerte den Patriotismus bis zum Wahnsinn? Das feindlich herangezogene monarchische Europa, das höchst monarchische Manifest des Feldherrn der verbündeten Könige! Die Verfassungen von 1791 und 1793 wollten die Volkshoheit herstellen, aber sie thaten es in mißverstandenem Sinn. Man hatte Rom, Athen vor Augen und gründete, nicht ein repräsentatives Gemeinwesen,  wie es einem großen Volke gemäß, sondern eine Stadtherrschaft. Was nur dem gesammten Volk zustehen solle, maßte sich Paris, jene unermeßliche Residenzstadt an; sie beherrschte die Regierung. Die herrlichen Girondisten, welche das Uebergewicht im Convent hatten, ermangelten der Erfahrung und der Thatkraft; sie mußten, auf die Massen des Mittelstandes sich stützend, den wilden Partheihäuptern, durch deren Wahnsinn sie fielen, zuvorkommen, und das brodlose Volk beschäftigen. –

Ihr machet einen andern Einwand: die französische Republik habe sich nicht behauptet, sondern sei freiwillig bald zur Monarchie zurückgekehrt; und so meint ihr, sei die praktische Unmöglichkeit dieser Staatsform für das heutige Europa dargethan.   Ihr irret! Das Volk war satt, nicht der Freiheit, sondern der Unordnung, erzeugt und unterhalten durch aristokratsiche Partheihäupter und durch das Ausland. Durch innere Verblutungen und äußere Kriege müd und erschöpft, sehnte sich dasselbe nach freier aber fester Gestaltung, es wollte, es erwartete von Bonaparte mit nichten die Monarchie, sondern die Freiheit, die wahre Freiheit ohne Monarchie und Fürstlichkeit. O ihr Völker, hütet euch vor Vergötterung eines Menschen, wer immer er sei! Ehret Tugend, ehret Größe, wahres Verdienst; aber ehrt es mit vorsichtigem Maß, und – achtet euch selbst! Der Mensch ist schwach und der Teufel stets zur Hand ihn in seiner Schwäche zu fassen. Bonaparte hatte leider nicht den Ehrgeiz, ein Wiederhersteller, ein Wohlthäter der alten Welt zu werden, wie Washington es von der neuen geworden. Er fühlte sich, in seiner Seele so unermeßlich weit und leer, daß ein ganzes großes und edles Volk, ja daß die gesammte europäische Menschheit nicht groß genug schien, diese Leere auszufüllen.

Er wollte nur eine neue Dynastie gründen, und der älteste Fürst von Gottes Gnaden sein, er wollte einen Thron erbauen, dem er das vernichtete Geschick aller Völker des neunzehnten Jahrhunderts zur Grundlage gab; wie konnte dies gelingen? Er zerbracht die republikanische Form, aber der Geist blieb; tiefe Wurzeln schlug die Republik nicht blos in Frankreich, sondern in ganz Europa: sagt was ihr wollt, ganz Europa ist republikanischer Tendenz: Manche wohl fürchten noch das Wort, Niemand fürchtet die Sache, die sich unter dem morschen Gerüst eurer Throne still und wundersam aufbaut.

Man flüstert auch von Gütertheilung, von Beraubung der Reichen zu Gunsten der Armen. Dergleichen gewaltsame Maßregeln könnten nur für kurze Zeit fruchten. Ungleichheit des Besitzes liegt in der Natur, welche die Menschen mit ungleichen Kräften und Neigungen ausstattet. Eine Gütergemeinschaft wäre der höchste Triumph der Gesetzgebung, denn sie würde dem Staat eine unveränderliche Grundlage geben, die Quelle von tausend Unsittlichkeiten und Verbrechen stopfen, alle vereinzelnte Bestrebungen guter und schlimmer Leidenschaften in einen Brennpunkt sammeln und sie auf ein Ziel, das Heil der Gesammtheit hinleiten. Allein – die Gütergemeinschaft ist eine Chimäre. Soll man aber darum einer andern Staatsordnung das Wort reden, wo die Gesammtheit nur für etliche Familien feucht und schwitzt; wo die unermeßliche Mehrheit kaum die Mittel zur Befriedigung der untersten Bedürfnisse des Leibes erübrigt, indes die Minderzahl in Müßiggang, im Uebermuth des Ueberflusses schwelgt; wo Millionen Menschen ohn‘ eigne Scholle, ohn‘ Obdach; wo die Gefängnisse jährlich erweitert werden müssen, um die Unglücklichen zu fassen, deren gränzenloses Elend sie zu Vergehen zwang um ihren Hunger zu stillen; wo Mütter und Kinder in die Strafanstalten kommen, um mit ihren Vätern ein thränenvolles Stückchen Schwarzbrod zu theilen? Nein, eine solche Staatseinrichtung ist naturwidrig, ist gottlos! Darum will ich eine andere, will ich ein wahres Gemeinwesen, eine Staatsordnung, die Jedem das Seinige sichert, die jene Ruh‘ und Ordnung giebt, welche man vergebens mit Bajonetten und Gesetzesheuchelei, mit Henkerbeil und Verbannung zu erreichen hofft; eine Staatsordnung will ich, die jene Freiheit und Gesetzlichkeit verschafft, deren die heutigen Völker bedürfen, und wornach sie ringen werden bis sie erlangt ist. Auf sie hab‘ ich meinen Glauben gesetzt, weil sie die kühnsten Träume der edelsten Menschen aller Zeiten verwirklicht, weil sie von der Vernunft geboten, von den reinsten Patrioten ersehnt, von allen aufgeklärten Bürgern erwartet wird, weil sie die Geburt ist, welche die Gegenwart im Schooße trägt. Und ich habe den weitern Glauben, daß die Republik einmal wieder erweckt, nicht abermals untergehn wird: an ihrer Wiege steht nicht nur eine bluttriefende Stiefmutter, die Monarchie, sondern eine hellsehende Wächterin, welche die alten und neuern Republiken nicht kannten, die freie Presse, die mit tausend Argusaugen sie überwacht, damit die Schlangen des Ehrgeizes und der Selbstsucht sich in scheuer Ferne halten.

Dies ist meine Überzeugung. Will ich sie Andern aufdringen? Will ich sie gewaltsam verwirklichen? Ihr sagt’s, aber ihr sagt Unsinn! Nicht wir unterdrückten die Meinungen Andrer, nicht wir verboten eure Staats- und Lohnblätter, nicht wir besiegelten eure Pressen und verfolgten die Schriftsteller eurer Parthei. Vor dem Talent und der Wahrheit seid ihr verstimmt, nicht vor unsern Bajonetten; wir wollen nicht geistige Knechtschaft, wir wollen Freiheit des Denkens, Freiheit des Handelns für Alle. Welche Staatsform, welches Gesetz jeweils einem Volk fromme, das bestimme dies Volk selbst. Wollte das spanische von Mönchen regiert sein, wer hat ein Recht es zu hindern? Will der Türke nichts von europäischer Zivilisation wissen, warum quält ihn der Sultan damit? Will Italien freie Institutionen, warum fesselt Oestreich die dortigen Regierungen? Blicket nach Portugal und saget mir, auf welchem Blatt die Geschichte ein empörenderes Schauspiel gewaltsamer Aufreibung der Volkskräfte für fürstliche Interessen darstelle. Die monarchischen Gewalthaber behaupten ihre Systeme mit Kanonen; Marat und Robespierre wollten Republikaner mit der Guillotine machen; sind die Einen im Unrecht, warum nicht die Andern? So weit ist man jetzt einig in der denkenden Welt, daß der Mensch religiöse Gewissensfreiheit als ein Recht anspricht; warum wollt ihr nicht die politische Gewissensfreiheit anerkennen? Nationen sind wie Individuen: jede nach eigner Weise bilde sich durch freie lichtvolle Verständigung ihren politischen Glauben, denke sich ihre politische Gottheit, weih‘ ihr Altäre! Dies ist’s, was ich Volkshoheit nenne. Ich will nicht, daß ein einzelner Mensch, sei’s ein Napoleon oder ein Don Miguel, ein Ferdinand VII. oder Joseph II. die Geschicke von Millionen nach seinen Einfällen bestimme; ich will, daß auch nicht irgend ein Theil der Staatsglieder, seien’s die Conservativen Englands oder die Pariser Sanscülotten, herrschen; ich will, daß keine Parthei die andere, nicht die Minderzahl die Mehrzahl, nicht einmal die Mehrheit die Minderzahl unterdrücke; ich will, daß die Gesammtheit herrsche, d. h. Geist und Gang der Regierung regle. Wo eine herrschende Klasse, da ist auch eine dienende. Der herrschende Gesammtwillen, der freie Ausdruck aller Volksinteressen – dies ist meine Republik.

So viel über Ziel und Inhalt meiner Bestrebungen. Nun über Art und Weise, wie ich es zu erreichen gesucht.

So einig, im Wesentlichen, die Meinungen der Aufgeklärten sind über letzten Zweck der Völkerbewegung; so gewiß es ist, daß alle der Knechtschaft nicht freiwillig dienenden einen Freistaat mit Jubel empfangen würden, wäre nichts weiter nöthig als in die Kirche zu gehen oder auf das Rathhaus, um die neue Verfassung zu beschwören: so vielfach abgeschattet sind gleichwohl die Ansichten über Mittel und Wege, den erwünschten Zustand zu erkämpfen. Zwar lassen sich diese Ansichten in zwei Hauptmeinungen zusammenfassen, wovon die eine die soziale Umgestaltung langsam, auf dem Weg allmäliger Reformen, die andere wesentlich auf Einmal will. Inzwischen muß ich in Beziehung auf die letzte Parthei sogleich die Beschränkung beifügen, daß dieselbe wohl zufrieden wäre, hätte man nur erst die Möglichkeit allmäliger Reformen errungen und sicher gestellt. Ich selbst gehöre zu dieser Parthei.

Kein Volk wünscht jemals Umsturz, Anarchie. Daß in jedem Volk ein Haufe von Leuten besteht, die sich in solchem Elemente wohl befänden, ist wahr; Mangel an Aufklärung und Ueberfluß an Elend sind schuld: die Staatsordnung, wogegen solcher Pöbel sich erhebt, hat ihn erzeugt; je zahlreicher und wilder er ist, desto verdammlicher erscheint die Ordnung der Dinge, die ihn erschaffen. Doch hütet euch, das sogenannte niedre Volk zu verdächtigen, ihr, die ihr den Pöbel nicht da sucht, wo er allein zu finden – in euern Reihen, Pöbel in Glanz und Würden, in Pallästen und im Ueberfluß! Pöbel ist mir, wer niedrige Gesinnung hat, wer in seinem armen Ich die Menschheit sieht, das Wohl der Gesammtheit seiner Selbstsucht opfert. Pöbel aber seh‘ ich nicht in den Massen, die eurer eignen Verderbnis widerstehend, den reinen Sinn für Menschliches bewahren, die für Hohes und Edles leicht entzündlich sind und zu Verwirrungen nur hingerissen werden durch euch; nicht seh‘ ich Pöbel in jenen wunderbaren Volkshaufen, die tausendjährige Monarchien umstürzen und doch aus den Trümmern nichts gewinnen als Wunden und Tod, indeß ihr, der vornehme Pöbel, Gesetz und Freiheit umwerfet, und dort und hier und überall nur für euch erndtet! Uebrigens sind es nicht nur Bettler und Plünderungssüchtige, die sich gegen die heutigen Verfassungen erheben; sondern es ist der gesammte Bürgerstand, das ganze Volk, mit Ausnahme der Wenigen, die im Sumpf der Monarchie ihre Nahrung suchen, im alten Gemäuer ihren Raub verbergen und verzehren.

Ich habe gesagt, daß ich selbst allmälige Reformen gewünscht, wenn sie möglich wären. Allmälige Reformen sind Entwicklungen eines Prinzips. Das Prinzip der heutigen Staatsordnung ist die absolute Fürstlichkeit, geimpft auf Lehn- und Priester-Aristokratie, und bis zum Gipfel der Anmaßung hinaufgetrieben; es ist was man Thron und Altar zu nennen beliebt. Dieser Thron, dieser Altar aber ist nichts anders als der Gotteskasten des Evangeliums, wohin die Witwe, d. h. die thierstumpfe Christenheit, ihren Sparpfennig trägt, um das Seelenheil zu erlangen, d. h. Priester und deren Neffen zu mästen; und um landesväterlich regiert zu werden, d. h. zu arbeiten, zu dienen, zu darben. Ich lasse das Kirchliche hier bei Seite. Was aber ist die weltliche Regierung? Im Innern: Gelder heben, fürstliche Heirathen und Kindtaufen, Hoffeste und Hofjagden, Mätressen und Gauckler, Soldatenspiel, Lust- und Badreisen. Nach Außen, wo erscheint ein Volksinteresse wirksam? Bei welchem Kongreß war Deutschland vertreten? Alle Staatsakten, Kriegs- und Friedensschlüsse, Trutz- und Schutzbündnisse, sind seit tausend Jahren nicht nur ohne Befragen der Völker, sondern auch ohne Rücksicht auf ihr Wohl im ausschließlichen Interesse der Fürstlichkeit gefaßt worden. Länder erscheinen nur als Schlachtfelder, Städte als Kasernen, Dörfer als Futtermagazine, Völker als blutende Werkzeuge, zuletzt als Waare für Friedenshändel, Kauf und Verkauf, Tausch und Verpfändung, Heirathsgut, Apanagen, Spielgeld für knechtisch gesinnte Generäle und Hofschranzen.

Dies Prinzip in tausendjähriger Ausbildung zur höchsten Blüthe gelangt, wie soll es geeignet sein, daß aus ihm, mittelst allmäliger Umbildung ein Volksbaum erwachse? Setzet an dessen Statt das Prinzip der Volkshoheit, d. h. erklärt grundgesetzlich, daß nicht das Volk der Regierung willen, sondern die Regierung des Volkes wegen da, und sichert dem wahren Volksinteresse ein reines, unbestechliches und unwiderstehliches Organ, d. h. eine frei erwählte Nationalversammlung, gestützt auf eine wahre Nationalmacht – ja, denn mögt ihr von allmäligen Reformen reden! Auch ich hatte den Wahn, die Fürsten wollten und könnten helfen. Mit aufgehobenen Händen, auf den Brand von Brüssel und Braunschweig hinweisend, fleht‘ ich zu den Fürsten, zu thun was ihnen und ihren Völkern geziemt; wie man es aufnahm ist bekannt: das Zuchthaus sollte mich von solchem Wahne heilen. Das hätt‘ ich freilich zuvor wissen können. Hat nicht der royalistische Messager des chambres, haben nicht die Koryphäen des burbonischen Königthums noch am 29. Juli ihre Hände flehend zu Karl X. erhoben? Mignet, in der Einleitung zu seiner Geschichte der französischen Revolution sagt:

„Malesherbes, aus einer Richterfamilie, hatte die Tugenden, aber nicht die Vorurtheile der Parlamente (damals Richterstellen) ererbt. Er vereinigte den freisinnigsten Geist mit dem schönsten Gemüth. Er wollte Jedem seine Rechte geben: den Angeklagten das Recht der Vertheidigung, den Protestanten Gewissensfreiheit, den Schriftstellern Preßfreiheit, allen Franzosen Sicherheit der Person ….. Türgot, ein fester und umfassender Geist, ein Charakter von ungewöhnlicher Kraft und Beharrlichkeit, versuchte noch weiter gehende Reformen. Er gesellte sich Malesherbes bei, um ein Verwaltungssystem zu errichten, das die Einigkeit der Regierung, die Gleichheit im Staate zurück zu führen geeignet wäre. Dieser tugendsame Bürger beschäftigte sich unausgesetzt mit der Verbesserung des Volkszustandes; er unternahm allein was die Revolution später bewirkte, (hört! hört! hört!) die Abschaffung aller Dienstbarkeiten und aller Privilegien. Er schlug vor, das Land von Frohnden, die Provinzen von den Abscheidungen, den innern Handel von den Mauthen und Zöllen, die Gewerbe von den Zunftbeschränkungen zu befrein, Adel und Geistlichkeit zu Steuerbeiträgen zu nöthigen, wie andre Bürger. Dieser große Bürger, der den Geist eines Bakon und das Herz eines L’hopital hatte, wollte die Nation durch Provinzialstände zum öffentlichen Leben, zu Reichsständen führen. Er würde die Revolution durch Regierungs-Verordnungen vollbracht haben, hätt‘ er sich – behaupten können. Allein unter der Herrschaft der Privilegien und der allgemeinen Volksknechtschaft waren alle Entwürfe zum Gesammtwohl unausführbar. Türgot erzürnte die Höflinge durch seine Verbesserungen, mißfiel dem Parlament durch Abschaffung der Frohnen, der Zünfte, der innern Zölle, und ängstigte den alten Minister durch das Uebergewicht, das ihm seine Tugend über Ludwig XVI. verschaffte: Ludwig gab ihn auf, indem er gleich wohl sagte: „Türgot und er, der König, seien die Einzigen, die aufrichtig das Wohl des Volkes wollten!““ Mignet fügt bei: „So sehr beklagenswerth ist die Stellung der Könige!“

Ist die damalige Lage Frankreichs nicht die heutige Deutschlands? Was wollen wir denn anders als Freiheit des Gewissens, der Presse, der Landwirthschaft, der Gewerbe, des Handels, der Personen und wahre Reichsstände? Türgot war der edelste, der weiseste Minister, den je ein König besaß; Ludwig war zu allen Reformen bereit, und dennoch gab er ihn auf! So beklagenswerth ist die Stellung der Könige! So trostlos die Lage der Völker! Ohne Zweifel sitzt auf Deutschlands Thronen mehr als ein gutmüthiger aber schwacher Ludwig, doch ein Malesherbes und Türgot hat sich noch nicht aufgethan: nur die Mazarin und Richelieu, Düboys, Calonne, Maurepas leiten die Kabinette.

Unter dem schimmernden Rockstern dieser Geistesarmen findet ein Gedanke an die Geschicke der Menschheit nicht Raum, in ihr vertrocknetes, ödes Gemüth zuckt vergebens der Lichtstrahl des neunzehnten Jahrhunderts, und der regenerirende Weltgeist, der ganz Völker emporrüttelt und tausendjährige Staaten umwälzt, geht an diesen sich allmächtig dünkenden Zwergen nur wie ein Gespenst vorüber.

In meinen Hoffnungen auf die Fürsten und ihre Räthe getäuscht, wendet‘ ich mich an die Kammern, und zugleich ans Volk, damit es dieselben mit Adressen und Petitionen antreibend stärke. Was war die Aufgabe der Kammern? die der französischen Nationalversammlung von 1789. Sie mußten jene Reformen verlangen und durchsetzen, welche Türgot durch Ordonnanzen vergebens einzuführen gehofft, die Nationalversammlung aber dekretirt hat. Nie war ein Zeitpunkt günstiger für die Völker Europa’s als das Jahr 1831. Sie durften nur wollen: ihr Wille war allmächtig. Der Großherr der Aristrokraten erwies seine Ohnmacht gegen Polens Helden; Oestreich zitterte wegen Italien, Ungarn, Gallizien; Preußen um die Rheinlande; Alle zitterten um ihre Throne, die alte Monarchie war in ihren Grundtiefen erschüttert; die Aristrokraten, des politischen Todes gewärtig, verstreckten sich wie die Legimitätshelden in den Julitagen. Keine Regierung hätte gewagt die Kammer aufzulösen; und hätten sie’s, so kamen die Kammern mächtiger als zuvor wieder. Warschau wäre nicht gefallen, hätten sie den Geist des Volkes, die eigne Stellung begriffen. Statt aber jene Grundreformen, statt ein deutsches Vaterland, ein deutsches Bürgerthum, Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz, mit einem Wort, das politische Dasein eines freien und mächtigen deutschen Volkes zu fordern und nöthigenfalls zu dekretiren, setzten sie, nur mit größeren Phrasen, jene Spiegelfechtereien fort, wozu sie freilich auch nur im Sinne der Aristrokraten berufen waren.


Quelle:
Philipp Jakob Siebenpfeiffer, Zwei gerichtliche Verteidigungsreden, Bern 1834, Teil 1, Rede vor dem Assisenprozeß in Landau, S. 11 - 18.

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