Um ihr Haupt reiht sich die Familie, um den Priester die Gemeinde, um den Lehrer die Jugend, um den Staatsmann das Volk.
– Vor Tempeln und andern Bauwerken, vor deren Inschriften und Bildnereien staunen und räthseln nahe und ferne Bewohner des Landes, die Pilgernden, der spätere Forscher und Reisende. – Schaaren ziehn auf Abenteuer aus, gründen weithin Ansiedelungen; ganze Volksmassen stürzen aufeinander, zerstreuen oder werden zerstreut. – Der Frachtschiffer durchsegelt den Ocean, der Aeronaut den Luftkreis; der Taucher senkt sich in des Meeres Tiefe, in der Erde Schacht der Bergmann. – Kühn wagt sich der Forscher unter unbekannte Völkerschaften, verwegen besteigt er den ewigen Schnee wolkenbefreundeter Gebirge des eignen und fremder Erdtheile; zu wilden Söhnen der Höhle folgt ihm der Missionär. – Eroberer stürmen Staaten um, und erbauen neue, die vielleicht wiederum bald zerstäuben; unter Blut und Trümmern begräbt sich, was hier gesäet worden, um vielleicht nach Jahrhunderten zu keimen. – An heiligen Sammelörtern der Gläubigen, wie an unwirthlichen Küsten begegnen sich speculirende Handelsheute, in mancherlei Zungen anbietend und empfangend; auf tausend Meilen hin erstehn Comtoire, die in Königreiche sich verwandeln, erst abhängig, dann selbstständig. – Hier spricht ein Gottgeweihter das neue Gesetz des Glaubens aus, dem bald Millionen gehorchen; dort erhebt ein Anderer, was vor Jahrtausenden Völker beseligte, aus dem Schutt; unscheinbare Rollen, einen geistigen Schatz in sich bergend, wandern umher, vervielfältigt unter spielender, unwissender Mönchshand. – Am westlichen Meeresrand Südeuropas sitzt ein schlichter Schiffer, der kühnsten Ahnung voll, die kein König begreift, und einen Erdtheil im Geist auf die Karte zeichnend, welchen Niemand kennt, den er aber, Gott vertrauend und dem eigenen Genius, aus dem Dunkel der Geschichte hervorzieht. Entdeckung auf Entdeckung, Erfindung auf Erfindung springt aus Zufall oder dem sinnenden Gedanken hervor, und darunter eine, die sich und alle andern mit beflügelter Eile von Pol zu Pol trägt, und sie tausendstimmig zugleich verkündet.
Alle diese Bestrebungen und Schaffungen, diese Bewegungen und Ereignisse nun, im weiten vielverzweigten Reich des Menschendaseins, insoweit sie von Einzelnen oder ganzen Volksmassen absichtlich unternommen, oder ergriffen und benutzt werden, gehen auf sehr verschiedene Zwecke, die den Urhebern und Mithandelnden mehr oder weniger klar vorschweben; sie haben aber auch immer gewisse Erfolge, die keineswegs in der Berechnung lagen, ja diese häufig durchkreuzen und vereiteln: ein weisestes Unternehmen kann sich in Nichts auflösen, ein thörichtestes vielleicht steht in seinem Resultat dauernd und glanzvoll da. Engherzig und eigennützig oft, fast immer persönlich und örtlich, selten ganz rein sind die Antriebe, die Beweg-gründe. Es ist ein wahres Chaos von Ursachen und Wirkungen, von Absicht und Zufall, von Thun und Lassen. Indeß giebt es einen Standpunkt, auf welchem vor dem geistigen Auge das seltsame Wirrsal sich lichtet und auflöst. Der Physiker, der Mathematiker ahnt, erforscht, erkennt, schaut an das Gesetz im unermesslich Sternenall, seine Seele vernimmt die Harmonie und das Leben funkelnder Himmelskörper; so auch ahnt, erforscht, erkennt und schaut an der denkende Beobachter das Gesetz der moralischen Weltordnung, seine Seele vernimmt die Harmonie auch in der Lebensentwicklung der Völker, unsers ganzen Geschlechts, in all‘ dem, was wir die Geschichte nennen, und er fühlt sich höchstens augenblicklich verstimmt durch die Mißtöne, die oft herb an sein geistiges Ohr schlagen; in all‘ jenen verwirrten und sich durchkreuzenden Erscheinungen erblickt er ein Verknüpfendes und Einendes, ein Lösendes und Bestimmendes, er erfaßt im Endlichen das Unendliche, das Schaffen des Geistes der Menschheit, die ein erhabenes Werk verrichtet, wozu die allgemeine Natur und unsre Erde, Individuen und Völker, Verstand und Wahn, Edelmuth und Selbstsucht, Tugend und Verbrechen mitwirken. Von solchem Standpunkt stehn der Kaufmann wie der Missionär, der Eroberer und der Ansiedler, der Abenteurer wie der Gelehrte und der Forscher, stehn Alle die daheim oder draußen, in engem oder weitem Kreis, müßig erzählend oder Thaten verrichtend, nur ihrem eigenen Behagen oder Drang zu folgen, nur besondre, meist persönliche Interessen zu erstreben scheinen, gleichwohl als Arbeiter an einem großen gemeinsamen, der gesammten Menschheit frommenden Werk vor uns, als Träger und Ausbreiter der Cultur, als Erzieher und Bildner unsers Geschlechts.
Man kann dieses noch in andrer Weise aussprechen und sagen: alle jene Bestrebungen und Ereignisse finden ihre Einheit, ihr Endziel und ihren gemeinsamen Ausdruck im geistigen Verkehr der Völker, welchen der Austausch in lebendiger Berührung von Wort und That, von Schrift und Symbol, unmittelbar, der Austausch materieller Güter aber mittelbar durchführt. Gleichwie alles Leibliche und Materielle nur als Grundlage und Bedingung für das Geistige vorhanden ist und dienen soll, so sind Handelsrichtungen, Kriege, Revolutionen u.s.w. sogar Naturereignisse, zuletzt nur Vehikel für die höhern Zwecke, durch deren Verwirklichung das geistige Wesen der Menschheit dauernd sich offenbart. Aus tausend Beispielen sey nur an wenige erinnert. Große Ueberschwemmungen zerstreuten in ältesten Zeiten die Bewohner und trieben sie vorwärts in vielfachen Richtungen; an sie knüpfen sich auf Jahrtausende hin heilige Lehren von Züchtigung, welche die Gottheit über unsre Entartung verhängt. Die Kunstwerke, welche römische Legionenführer aus Griechenland und Aegypten als rohe Kriegsbeute mit sich schleppten, und zu rohem Prunk in Rom ausstellten, zu einer Zeit wo dieses unfähig war einen edlern Gebrauch davon zu machen, dienen dem modernen Europa als Bildungsmittel, – Die Kreuzzüge hatten Befreiung des heiligen Grabes, die Anführer hatten zum Theil die Gründung von Herrschaft im Auge; diese Zwecke wurden nicht oder nur für kurze Zeit erreicht, allein von da an und damit begann eine neue großartigste Epoche der modernen Entwicklung: Europa gelangt allmählig zur Weltansicht und zur Erkenntnis seiner hohen Bestimmung, die eben darin besteht, nicht nur in eigner Mitte die einst vom Orient aus empfangene Bildung zu vollenden, sondern auch in der Westwelt jenseits des Oceans sie auszubreiten und nach dem Morgenlande selbst zurückzutragen, das dortige Leben zu verjüngen. – Was immer die Endabsichten eines Alexander, eines Carl d. Gr., eines Napoleon gewesen seyn mögen, ihre gewaltigen Schöpfungen zerfielen mit oder bald nach ihrem Tode, und die Welt erndtete ganz Andres, als die riesenhafte Selbstsucht im Sinn hatte. – Was erstrebt England in allen Erdtheilen? Märkte. Was wollte Napoleon zunächst am Nil und vielleicht am Indus? Englands Märkte zerstören. Armselige Zwecke! Allein Englands Fracht- und Kriegsschiffe tragen noch andere Dinge als Colonialproducte und Fabrikate; und von Napoleons Aussaat sind nur Keime vorhanden, die ein empörerischer Pascha pflegt und ausbeutet; und dieser selbst, indem er nur nach persönlicher Größe dürstet, legt vielleicht den Grund zu einer neuen Ordnung der Dinge. Die Verwicklungen der europäischen Mächte in Bezug auf Indien, Persien, die Türkei sind Fortsetzungen, Acte oder Auftritte desselben großen Drama’s, welches der Geist der Menschheit aufführt. Was die Intervention europäischer Cabinette in der Frage des Orients zu Stande bringen werde, kann dem Denker keine tiefe Besorgnis machen, denn er weiß, dass hinter der Scene ein Andrer wirkt, dessen Protokoll die Entwicklung des Menschengeschlechts enthält und bestimmt: nicht immer im Geist der einzelnen Menschen, aber stets im Geiste der Menschheit offenbart sich der Geist Gottes.
Klar also ist’s: während die Menschen Vortheile, oft sehr schnöder Art, Gewinn und Herrschaft, Befriedigung bald edler, bald unedler Leidenschaften und Begierden, fast stets das Vergängliche suchen, wirken sie im Dienst der Menschheit, die, mächtiger als die gewaltigsten Einzelnen und Völker, nur nach dem Höhern, Ewigen ringt, und so die ihr eingeprägten göttlichen Ideen verwirklicht, unter Vermittlung des geistigen Verkehrs der Völker und Zeiten. Dies eben ist’s, was unser Geschlecht in seiner Fortentwicklung erhält und trägt, was es aus aller Versunkenheit und Verwilderung der Zeit immer wieder aufrichtet, emporhebt und forttreibt; und darin eben liegt das Heilige des geistigen Verkehrs der Völker: denn er ist der Vermittler, der Ueberlieferer und Ausbreiter der durch’s ganze Leben der Menschheit fortziehenden, und durch dasselbe sich offenbarenden göttlichen Idee, von welcher nicht getragen, unser Daseyn schlechthin keinen Sinn hätte, all‘ unser Wirken nur ein armseliges Treiben wäre; als was auch in der That die ganze Geschichte sich darstellt, wenn dem Beobachter der philosophische Blick mangelt.
So mannigfaltig nun aber die Mittel und Wege sind, die in jenen verworrenen Bestrebungen und Begebenheiten dem Geist der Menschheit sich darbieten, so hat er doch auch von Ursprung an eigne Mittel sich geschaffen, sie unablässig erweitert und vervollkommnet. Solche sind hauptsächlich: Sprache und Bild,die so alt sind als unser Geschlecht, die aber in immer neuer Mannigfaltigkeit, mit neuem Reiz und ausgebreiteterer Wirksamkeit auftreten, eben nach den erweiterten Kreisen und Zwecken, worin und wofür der Genius der Menschheit zu wirken sich berufen fühlt. Unser Geschlecht gleicht darin dem Kinde, das zuerst nur die Mutterbrust, dann die Wiege und sein Spielzeug kennt, allmählig aber den Blick weiter und weiter sendet, mehr und mehr seinen physischen und geistigen Gesichtskreis ausdehnt. Ursprünglich mochte das öffentliche Leben eins seyn mit dem Leben der Familie, der Geschlechter und Stämme: mündliche Ueberlieferung am Herd, am Altar genügte. – Allmählig erstand ein Leben der Nationen, aber jede schloß sich ab, kaum drangen einige Strahlen des errungenen Lichts, oder Zweige der errungenen Cultur von dem einen Volk zum andern; nur locker knüpften sich die Fäden des Gemeinsamen, und die Besitzer dieses Gemeinsamen waren ihres herrlichen Schatzes kaum bewusst. So mochte denn auch z. B. manche Entdeckung oder Erfindung der Chinesen in der Abgeschiedenheit von der übrigen Welt verkümmern: die Zeit war noch nicht gekommen, wo Einzelne und Völker mit ihrem Blick Erd und Himmel umspannen sollten. Wie engherzig, kurzsichtig, armselig sind heute noch manche Ansichten und Zwecke, die täglich laut werden in Bezug auf jene Frage des Orients, eine der erhabensten vielleicht, die je in Erwägung standen! Wie hier der Genius der Menschheit neue Bahnen zu bereiten scheint zu einer Wiedergeburt ganzer Erdtheile, wovon der Conflict selbstsüchtiger Tagesinteressen kaum eine Ahnung hat; wie das Evangelium Jahrhunderte lang vorbereitet, Jahrhunderte lang verkümmert ward, und heute noch von Wenigen begriffen wird in seinem ureigenen Sinn und in seiner Allmacht als Bildungsmittel: so geschah es auch mit der Erfindung des Mannes, welchen wir Deutschen stolz den unsrigen nennen, und den dies Album feiert. Die Schrift vereinigte Sprache und Bild. Durch die Erfindung der Schrift ward, was einst nur flüchtig vom Mund zum Ohr ging, dauerhaft bleibend; was örtlich fest oder beschränkt als Zeichen zum Auge sprach, das ward beweglich und in die Ferne wirkend; beides ging über den engen Kreis der Häuslichkeit und Nationalität hinaus, ward mehr und mehr Eigenthum der Welt, Bildungsmittel des in Völkern und Zeiten sich selbst erkennenden und zum Bewußtseyn gelangenden Geistes der Menschheit. Die Erfindung des Druckes aber, wie die nachgefolgte Lithographik und das Daguerrotyp kommen dieser erweiterten Wirksamkeit wundersam zu Hülfe.
Wie demnach die fortschreitende geistige Bildung unsers Geschlechts ihren naturgesetzlichen Gang geht, so auch die fortschreitende Vervollkommnung der Bildungsmittel; und wie jene Bildung, so ist auch der geistige Verkehr der Menschen und Völker, als Gesammt-Vehikel des Fortschritts, ein Heiligthum der Menschheit. Menschen mögen in schnöder Selbstsucht die Bildung und die Bildungsmittel missbrauchen oder verkümmern; was der Genius der Menschheit erfasst und sich angeeignet hat, das lässt er nimmer, er wird allmählig Besitz und Gebrauch auch dieses Werkzeugs seiner Entwicklung zu sichern und zu heiligen wissen. Darum nicht der sterbliche Mann, der die Druckerpresse erfand, und der schwerlich deren hohe Bedeutung erkannte; sondern der unsterbliche Geist der Menschheit ist’s, dem unser Deutschland, dem Europa dankbar das eherne Standbild errichtet hat, und um dessen Haupt stets neue Kränze des Ruhms sich winden.
Bern Siebenpfeiffer
Quelle:
Heinrich Meyer (Hg.), Gutenbergs-Album, Braunschweig 1840, S. 119 - 126.
Anmerkung: Das „Gutenbergs-Album“ gehörte zu den zahlreichen Veröffentlichungen und anderen Aktivitäten zu Ehren Gutenbergs, die in den 1830er- und 40er-Jahren Bestandteile deutscher Festkultur wurden. 1837 war in Mainz das große Gutenbergdenkmal von Bertel Thorvaldsen eingeweiht worden – es war quasi das Fanal für weitere zahlreiche Monumente. Das Buch versammelt Beiträge zur Biographie Gutenbergs sowie zur Erfindung und Entwicklung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern. Sodann folgen eine Reihe (bestellter und eigens verfasster) Würdigungen prominenter zeitgenössischer Autoren. Neben Siebenpfeiffer gehören etwa Berthold Auerbach, Karl Christian Ernst Graf von Bentzel-Sternau, Friedrich de la Motte-Fouqué, Gustav Schwab, Ludwig Bechstein, Moses Mendelsohn, Friedrich Rückert und sogar Friedrich Engels zu den Beiträgern. Der dritte Teil enthält Texte in fremden Sprachen, darunter etliche Raritäten, wie Wendisch und Wallachisch oder exotische wie Altägyptisch in Hieroglyphenschrift. Den fremdsprachigen Beiträgen schließen sich 26 „Schriftproben“ an, etwa eine chinesische, verschiedene Keilschriften (für Text und für Noten) sowie Pehlvi, Zend und Cabulisch aus der Schriftgießerei Friedrich Ries in Leipzig. Besonders bemerkenswert sind die Schlusszeilen des Gedichts von Leopold Schefer:
„Doch wer das lügt, verläumdet, ja verschweiget
Was wahr und recht ist dem Geringsten nur,
Wer Andrer Druckwerk stiehlt, als Mensch ein Rabe,
Der schlägt noch Gutenbergen todt im Grabe!“.